Bergenhusener Thesen zum Verhältnis von Wissenschaft und Naturschutz
Perspektiven der Naturschutzforschung
Trotz einiger Erfolge im Naturschutz nehmen die Bestände vieler Pflanzen- und Tierarten, gerade auch von ehemaligen „Allerweltsarten", nach wie vor in erschreckendem Maße ab. Einerseits werden politische Ziele zum Erhalt der Biodiversität auf nationaler und internationaler Ebene regelmäßig verfehlt, andererseits nehmen die wissenschaftlichen Erkenntnisse sowohl über die Rückgangsursachen von Arten als auch über wirksame Gegenmaßnahmen zu. Es stellen sich also Fragen nach der Rolle der Wissenschaft im Naturschutz, nach der Wahrnehmung wissenschaftlicher Ergebnisse durch den Naturschutz und nach der „Durchschlagskraft" wissenschaftlicher Argumente im Naturschutz, ohne das Vorsorgeprinzip aus den Augen zu verlieren. Diese Fragen gewinnen nicht nur durch die beschleunigten Rückgänge vieler Arten an Aktualität. Zunehmend populistische Tendenzen in politischen Debatten machen auch vor dem Natur- und Umweltschutz nicht Halt und erschweren die differenzierte (wissenschaftliche) Betrachtung der Sachverhalte.
Vor diesem Hintergrund trafen sich anlässlich des 25-jähigen Bestehens des Michael-Otto-Instituts im NABU 40 Wissenschaft-ler/innen, Naturschutzvertreter/innen und Journalisten/innen zu einem Kolloquium und entwickelten unter der Moderation von Stefan Zirpel (Umweltstiftung Michael Otto) folgende Thesen:
• These 1: Der Naturschutz basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wenn die Ursachen von z.B. Bestandsrückgängen bekannt sind, lassen sich nachhaltige Schutzkonzepte ganzheitlich ableiten.
• These 2: Politische Entscheidungen mit Auswirkungen auf Natur und Umwelt müssen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und durch ein Monitoring evaluiert werden.
• These 3: Grundlage für wissenschaftsbasiertes Vorgehen im Naturschutz ist Monitoring als „Frühwarnsystem“ und eine daraus abgeleitete, regelmäßige Einschätzung möglicher Risiken für die Natur. Die dafür erforderlichen Instrumente sind zu schaffen.
• These 4: Beitrag der Wissenschaft muss sein, ihre Erkenntnisse zielgruppengerecht aufzubereiten und zu kommunizieren, um Verwaltung, Politik und die Öffentlichkeit inhaltlich und emotional zu erreichen.
• These 5: Der Naturschutz braucht mehr gut ausgebildetes Personal. Um den Anforderungen aus der Wissenschaft im Naturschutz Genüge zu tun, muss mehr für die Ausbildung getan werden.
• These 6: Die traditionelle Trennung zwischen „Grundlagenforschung" und „angewandter Forschung" ist aufzulösen.
• These 7: Naturschutzforschung erfordert neue Förderinstrumente und Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgaben.
Das Vorbereitungsteam (stellvertretend für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer):
Prof. Dr. Franz Bairlein (Institut für Vogelforschung, Wilhelmshaven), Christina Focke und Lars Lachmann (NABU Bundesverband, Berlin), Dr. Hermann Hötker und Dr. Jutta Leyrer (Michael-Otto-Institut im NABU, Bergenhusen), Prof. Dr. Christoph Leuschner (Albrecht-von-Haller-Institut für Pflanzenwissenschaften, Universität Göttingen), Peter Südbeck (Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer), Stephan Zirpel (Umweltstiftung Michael Otto, Hamburg)
Hintergrund:
„Naturschutz braucht Forschung – Forschung braucht Gehör": Ein Workshop über die Perspektiven der Naturschutzforschung
Ein unter diesem Leitsatz stehender Workshop fand unter internationaler Beteiligung am 21. Juni 2018 statt. Den Rahmen bot die Jubiläumsveranstaltung zum 25-jährigen Bestehen des Michael-Otto-Instituts im NABU. Mitwirkende waren vierzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Wissenschaft und Forschung, aus Naturschutzverwaltungen, Naturschutzverbänden und -stiftungen sowie Vertreter von Medien.
Im Zentrum stand die Frage, warum trotz vorhandener wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Rückgangsursachen vieler Arten diese offenkundig nur in sehr geringem Maß Eingang in die (Naturschutz-) Politik finden.
Insgesamt sechs Impulsreferate behandelten sehr unterschiedliche Aspekte des Workshop-Themas. In den sich jeweils anschließenden intensiven Diskussionen ging es vornehmlich darum herauszuarbeiten, wie für den Naturschutz relevante Forschungsergebnisse Entscheidungsträgern besser zur Kenntnis gebracht werden könnten und wie sich diese Befunde effektiver in die Naturschutzpraxis implementieren ließen.
Impulsreferate
• Prof. Dr. Franz Bairlein (Direktor Institut für Vogelforschung): Die Rolle der Wissenschaft im Naturschutz
• Prof. Dr. Christoph Leuschner (Universität Göttingen): Artenschwund in der Agrarlandschaft: Weiter forschen oder handeln?
• Prof. Dr. Theunis Piersma (Universität Groningen, NL): Meadow bird conservation research as the basis of political decision making
• Thorsten Elscher (Abteilung Naturschutz, MELUND): Die Rolle der Verwaltung zwischen Naturschutz und Forschung
• Peter Südbeck (Direktor Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer): Der Beitrag von Naturschutzorganisationen zur Wissenschaft im Naturschutz
• Angela Grosse (Wissenschaftsjournalistin): Forschung und Kommunikation: Die Rolle des Wissenschaftsjournalismus